Hier abermals ein älterer, wiedergefundener Text. Aus einer dunkleren Zeit.
Erwachen
Ich wache auf und öffne meine Augen. Das Licht scheint mir entgegen. Doch es ist nicht hell. Wo ist die Wärme? Ein Schleier aus tristem Grau trübt meine Sicht. Mein Körper ist kalt, von innen. Kalt und leer. Mit einer mühseligen Bewegung ziehe ich die Decke beiseite und gebe mich dem Morgen preis. Er empfängt mich gnadenlos mit der Realität, aus der ich für wenige Stunden geflohen war. Fliehen, das ist alles was ich noch tun kann.
Es ist so ernüchternd, jeder Augenblick der Gegenwart verliert in derselben Sekunde seinen Sinn, in der er ihn bekommen hat. Oder, in der er vorgab, ihn bekommen zu haben. Ernüchternd.
Ich stehe auf und gehe zum Fenster. Die Beine so schwer, jeder Schritt eine Frage. Ich öffne es und lasse den frischen Wind herein, doch kein bisschen des Sauerstoffs erfüllt meine Lunge mit Atem. Wozu atmen?
Mein Blick quält sich durch den Raum. Ich will nicht, doch ich kann mich nicht wehren.
Das Foto an der Wand. Wieder schwere Schritte, wieder Fragen, überschattet von erschreckender Gewissheit. Mein Abbild geht am Spiegel vorbei, ich kann mich nicht ansehen, dieses matte Gesicht. Blass und leidend. Der Weg ist so kurz, doch was mich am Ende erwartet lässt mich zögern. Doch ich werde getrieben, von einem masochistischen Teil meiner Selbst, den ich nicht zu kontrollieren weiß.
Ich bleibe davor stehen. Das Foto. Als rissen stählerne Ketten mein Herz in die Tiefe lässt mich der Schmerz erzittern und ich greife mir an die Brust, wissend das es mir keine Linderung verschaffen würde. Ich verliere den Kampf und bittersüße Tränen laufen in kleinen Rinnsalen über mein Gesicht. Ich schmecke sie, als sie über meine Lippen perlen. Doch sie sind nicht bittersüß. Sie schmecken salzig, nur salzig.
Ich frage mich, wie lange ich in dieser Welt voller Illusionen noch überleben kann. Mein Körper gibt mir eine Antwort darauf, als mich ein abrupter Schwindelanfall überkommt und ich wankend nach vorne strauchele. Hilflos sucht meine zitternde Hand Halt an der Wand, meine zerschlissenen Fingernägel krallen sich in die Tapete. Ich schluchze und bin kurz davor, mich der übermannenden Ohnmacht hinzugeben. Ich schaffe es nicht länger. Aber ich muss doch. Muss ich?
Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Schon lange nicht mehr. Ich weiß nur, dass es weh tut, jede Sekunde meiner verrottenden Existenz.
In diesem Moment weiß ich, dass es sich jetzt entscheidet. Dass ich mich entscheiden muss. Für das Leben oder für den langsamen Tod in dieser kalten, dunklen Welt der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Habe ich die Kraft?
Noch immer mit beiden Händen stützend an die Wand gelehnt hebe ich langsam den Kopf. Das schwarze Haar verhängt eines meiner weinenden Augen. Mit dem anderen blicke ich angestrengt auf das Foto direkt vor mir. Ein Blick, der mir die letzte Kraft abverlangt, die ich in mir trage. Doch der schwerste Schritt liegt noch vor mir. Mein Atem wird flacher und kalter Schweiß benetzt meine Haut, es ist wie eine Krankheit. Eine Krankheit, von der nur ich selbst mich heilen kann.
Ich will wieder wegsehen und in Leid und Einsamkeit versinken, doch ich weiß, wenn ich jetzt nachgebe, bin ich verloren. Langsam und angespannt löse ich eine Hand von der Wand und hebe sie zaghaft nach oben. Mein Körper bebt vor Aufregung und will sich gleichzeitig einfach nur der Erschöpfung hingeben. Immer näher kommen meine zitternden Finger dem Bild, und mein Arm wird schwerer und schwerer, als zerrten ihn bleierne Ketten hinab. Doch ich will nicht aufgeben. Irgendwo in den Abgründen meiner Seele ist ein Funke der Entschlossenheit neu entflammt und die fremde Wärme schenkt mir Kraft. Endlich, meine Hand erreicht das staubige Papier und in einer letzten kraftraubenden Bewegung reiße ich das Bild von der Wand.
Wie paralysiert stehe ich da, als die Fetzen zu Boden fallen. Ich blicke an die leere Wand und muss mich abermals abstützen. Doch ist es kein weiterer Schwindelanfall, der mir das Gleichgewicht raubt. Es ist Erleichterung. Und ich kann es kaum glauben, als sich nur für eine kurze Sekunde ein Lächeln auf meine Lippen legt und diesem einen Augenblick damit einen unwiderruflichen Sinn verleiht.
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Vogelgezwitscher